Freude an Natur und Bewegung mit Aufklärung und Engagement verbinden
Die Tour von Regensburg zum Naturfreundehaus Alpiner Steig (N 45) ist eine schöne Wanderung. In der Ortsgruppe wird gerne der Bus an den Stadtrand genommen und dann sind es nur noch knapp zwei Stunden. Das vereinseigene Haus liegt hoch über dem Tal der Schwarzen Laaber in einem bei Wandernden sehr beliebten Naherholungsgebiet. Unmittelbar am Haus führt der 237 Kilometer lange Jurasteig vorbei. Die gute Lage des Naturfreundehauses ist kein Zufall. Ortsgruppen bauten ihre Vereinsheime besonders gerne dort, wo sie in ihrer Freizeit in die Natur gingen. Den Anfang bildete oft ein einfacher Wanderstützpunkt, der nach und nach ausgebaut wurde. Am Wochenende wanderte man regelmäßig zum Haus, traf andere NaturFreund*innen, genoss Erholung und Gemeinschaft.
Mehr als bloße Freizeitgestaltung
Dank der genossenschaftlichen Organisationsstrukturen konnten Mitglieder auch entferntere Ziele in den Blick nehmen, indem sie Vereinsheime anderer Ortsgruppen besuchten. Die Naturfreundehäuser verdeutlichten dabei, zu welchen Leistungen die organisierte Arbeiterbewegung auch im Freizeitsektor fähig war. Das Wandern war damit mehr als bloße Freizeitgestaltung: Es war Teil des sozialen wie kulturellen Emanzipationsprozesses der Arbeitenden.
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Schon bei der Gründung 1895 in Wien hatten die NaturFreunde raus wollen aus dem städtischen Elend und hinein in die Gebiete, von denen Arbeiter*innen bislang ausgeschlossen waren. Das Konzept des Sozialen Wanderns half, auf eine kritische Art und Weise Wissen über die erwanderten Regionen zu erschließen. Verglichen mit bürgerlichen Praktiken pflegten NaturFreund*innen beim Wandern viel offenere und lockerere Umgangsformen. Dabei waren Touren über 30 und mehr Kilometer durchaus die Regel, auch als Ausgleich zum durchregulierten Arbeiten in den Fabriken.
Heutzutage sind eher Wanderungen mit Reichweiten zwischen 10 und 15 Kilometer typisch. Das zeigen Erhebungen der noch relativ jungen Wanderforschung. Ihr zufolge wandern heute etwa zwei Drittel der Bundesbürger*innen. Das Bundeswirtschaftsministerium kommt auf fast 450 Millionen Tageswanderungen pro Jahr.
Inklusivität statt Privileg
Dass sogar das Wirtschaftsministerium Zahlen erhebt, zeigt, wie ökonomisch interessant das Wandern mittlerweile geworden ist. Allein schon die Wanderbekleidung, gelegentlich mehr Life-Style als tatsächlich im Gelände genutzt, ist ein lukrativer Markt und signalisiert zunehmend den Status ihrer Träger*innen. Auch die immer weiter voranschreitende Standardisierung des Wanderns durch Qualitätssiegel und Design-Linien zeigt Wirkung. Naturbesuche auf zertifizierten „Premiumtrails“ sind „Zusatzleistungen“ in einem ansonsten sehr traditionellen Massentourismus, wo die Natur selbst als ökonomischer „Standortvorteil“ fungiert.
233 lizenzierte Wanderleiter*innen und Trainer*innen mit gültigem Sportausweis ∙ 4 Ausbildungsgänge ∙ 16 Aus- & Fortbildungsangebote in der Saison 2021 · 1 Bundeslehrteam
Entwickelt sich das Wandern möglicherweise gerade zu einer exklusiven Tätigkeit, wo Geld und Status entscheidender sind als die Freude an der Bewegung in der Natur? Wo eine teure Ausrüstung oder die richtige Instagram-Story signalisieren, ob man es richtig macht oder gar „In“ ist? Das gab es ja schon mal, als das Spazieren und Flanieren vor spektakulärer Landschaftskulisse bürgerliche Urlaube prägte. In der „Sommerfrische“ des 19. Jahrhunderts blieb die privilegierte Gesellschaft lieber unter sich.
NaturFreund*innen waren da nicht dabei. Überhaupt pflegt der Verband traditionell eine inklusive Art des Wanderns und setzt sehr grundsätzlich auf den Breitensport. „Wir versuchen jede*n mitzunehmen“ hört man oft aus den Ortsgruppen. Die angebotenen Wanderungen sind offen für Nichtmitglieder genauso wie für Geflüchtete oder Menschen mit Handicap. Meist sind die Touren mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar und vermeintlich „falsche“ Ausrüstung wird auch nicht belächelt.
Wandernd zu mehr Erkenntnis kommen
Auch bei NaturFreunde-Wanderungen geht es um Fitness, um den Genuss von Natur und Landschaft und natürlich um den Spaß am Wandern. Daneben stehen meist auch Aktivitäten und Erkenntnisgewinn in der Gemeinschaft im Fokus. Dank gut ausgebildeter Wanderleiter*innen wissen die Wandernden genau, wo sie sich bewegen und haben sowohl die Region als auch lokale Besonderheiten im Blick. Sehr gerne erkundet man zum Beispiel gemeinschaftlich eine bestimmte soziale oder ökologische Situation vor Ort. Dann versucht die Gruppe, sich selbst ein Bild zu machen und jede*r ist eingeladen, die eigene Perspektive einbringen.
Ungezwungene Gespräche mit Politiker*innen ermöglicht das NaturFreunde-Tourenformat „Politik im Grünen“. Die etwa zwei Stunden langen Touren in frischer Luft und lockerer Atmosphäre helfen vielen Menschen, Berührungsängste abzubauen, Vorbehalte durch eigene Anschauung zu hinterfragen und neue Sichtweisen zu entwickeln. Das gilt natürlich gleichermaßen für Vertreter*innen der Politik. Politik im Grünen interessiert erfahrungsgemäß auch viele Menschen außerhalb des Verbandes.
Zu dieser Tradition passt auch das NaturFreunde-Tourenformat „Politik im Grünen“, das zwanglose Gespräche mit Politiker*innen während einer Wanderung ermöglicht. Berühmtestes Beispiel ist vielleicht der frühere Bundeskanzler und NaturFreund Willy Brandt, der so zum Naturfreundehaus Bielefeld (D 1) wanderte.
Wie wichtig solche gemeinsamen Wandererfahrungen für die politische Willensbildung sind, zeigt sich auch an ganz anderer Stelle: Nach dem Verbot durch die Nazis hielten illegale Gemeinschaftswanderungen vielerorts die alten NaturFreunde-Kontakte am Leben. In diesen Milieus agierten auch Widerstandsgruppen, die ihre beim Wandern gewonnene Ortskenntnis nutzten und politisch Verfolgte ins Ausland sowie illegale Schriften ins Inland brachten. Ein bekanntes Beispiel ist der spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner, der 1933 vom Münchner NaturFreund Hans Fischer über den Karwendel nach Österreich geführt wurde. Hoegner gelang es später, das Recht auf freien Zugang zur Natur in die Landesverfassung einzuschreiben.
Wandern bringt das Denken in Bewegung
Dieser freie Zugang zur Natur, für den die NaturFreunde lange erbittert kämpfen mussten, ist heute selbstverständlich – genauso wie Naturerlebnisse als Ausgleich zum Alltag. Quer durch die Gesellschaft ist das Wandern zum Quell der Erholung geworden. Es stärkt den Lebensmut, erhöht das Selbstwertgefühl und bringt das Denken in Bewegung. Oder wie es der Europäische Wanderkodex formuliert: Wandern steht für Offenheit, Freiheit, Respekt, Rücksichtnahme und Inklusion. Man könnte meinen, hier hätte jemand NaturFreunde-Werte abgeschrieben.
Soziologisch gesprochen liegt der Wert des Wanderns neben den Kontakten und dem Blick auf die Welt in einer gelungenen Resonanz-Erfahrung: Angesichts der umfassenden Entfremdung in der sozialen Welt bietet die Bewegung in der Natur eine Art Einssein mit sich und den Mitmenschen. Und weil die Welt, wie wir sie haben, keine perfekte ist, wollen wir ihre Resonanz-Möglichkeiten durch Kritik erhöhen.
In der Corona-Pandemie dürfte es auch dieser Wunsch nach Einheit von körperlicher, geistiger und sozialer Freiheit sein, der die Menschen wieder in die Natur treibt. Es ist ja auch befreiend, aus einer alltäglichen Form der Bewegung etwas Besonderes, Persönliches zu machen. In touristischen Monokulturen, in denen das Geld Maß aller Dinge ist, kann das jedoch nicht funktionieren. Allerdings: Auch die ehrenamtliche Wanderinfrastruktur ist keine Selbstverständlichkeit.
Der Wert der ehrenamtlichen Arbeit
Vereinshäuser wie das Regensburger Naturfreundehaus – wir sind übrigens gleich da – sind natürlich längst mehr als ein einfacher Wanderstützpunkt, nämlich ehrenamtlich geführte Ausflugsgaststätte, Tourist*innenherberge, Seminarhaus und nicht zuletzt auch eine wichtige Finanzierungsquelle der Ortsgruppen-Arbeit. Da ist es gefährlich, dass sich viele Menschen daran gewöhnt haben, dass es irgendwie auch ohne ehrenamtliche Hausdienste funktioniert – und ohne ehrenamtlich geführte Wanderungen.
Sicher ist: Wir NaturFreunde verbinden das Wandern als Selbstzweck mit einer umfassenderen Sicht der Welt, in der wir leben. Das zu erfahren und das zu vermitteln, braucht natürlich mehr als die kurze Teilnahme an einer Wanderung oder die schnelle Einkehr im Naturfreundehaus. Es braucht das Wissen, die Betreuung und das gute praktische Beispiel von Wanderleiter*innen. Und da waren die NaturFreunde immer sehr gut aufgestellt.
Dieter Groß
NaturFreunde Regensburg